Presse/ndr.de: Sechs Tage in türkischer Haft

Der NDR hat einen ausführlichen Bericht und Interview mit Yüksel veröffentlicht.

Dokumentation von https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Sechs-Tage-in-tuerkischer-Haft,tuerkei806.html

Sechs Tage in türkischer Haft
von Christian Nagel

Die Kielerin Yüksel C. ist Ende August fast eine Woche lang von türkischen Behörden in ihrer alten Heimat festgehalten worden. Sie verbrachte sechs Tage und Nächte in einer Gefängniszelle in Balikesir – unschuldig, wie sie sagt. Nur mit Glück kann sie der türkischen Justiz entkommen, flüchtet in einem Auto zurück nach Deutschland. Wochen nach ihrer Rückkehr spricht sie offen über ihre Erlebnisse. Und sie kritisiert die deutschen Behörden. Bis heute habe sie vom Auswärtigen Amt keine Hilfe bekommen.

Eigentlich sollte es ein ganz normaler Türkei-Urlaub werden. Ein Treffen mit Freunden und Bekannten in der alten Heimat. Etwas mehr als einen Monat nach dem gescheiterten Putsch von Teilen des Militärs gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan reist Yüksel C. in die türkische Region Balikesir. Die Kielerin, die seit 1974 in Deutschland lebt und seit knapp 20 Jahren deutsche Staatsbürgerin ist, will sich dort erholen. Gemeinsam mit Freunden bezieht die 51-Jährige eine Ferienwohnung.

Merkwürdige Stimmung in der Heimat

Schon bei ihrer Ankunft kommt der Kielerin die Türkei seltsam verändert vor. Überall hätten türkische Fahnen gehangen, sagt sie. An Geschäften und privaten Gebäuden. Sie vermutet, dass die Menschen möglicherweise dazu gezwungen werden. Gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes in Balikesir bekommen die Urlauber in ihrer Ferienwohnung Besuch von sechs türkischen Jugendlichen. Es seien Mitglieder der sozialistischen Jugendorganisation SGDF (Sosyalist Gençlik Dernekleri Federasyonu – Föderation der sozialistischen Jugendverbände) gewesen, sagt Yüksel C. in unserem Gespräch in einem Kieler Café einige Wochen später. Eine Gruppierung, die in der Türkei zwar nicht verboten, aber auch nicht besonders angesehen ist. Die Mitglieder werden laut Yüksel C. von Polizei und Gerichten wie Terroristen behandelt.

Sie will sich solidarisch mit den Menschen in Kobane zeigen

Die Jugendlichen der SGDF habe sie 2015 nach einem Terroranschlag des sogenannten Islamischen Staats (IS) im südtürkischen Suruç nahe der Grenze zu Syrien kennengelernt. Dort sei sie mit rund 300 weiteren Jugendlichen unterwegs nach Kobane gewesen, um dort beim Wiederaufbau der fast vollständig zerstörten Stadt zu helfen. Sie wollte so ihre Solidarität mit den Menschen in Kobane zeigen. Nach eigenen Angaben unterstützt Yüksel C. die Kampagne aktiv. Sie vermutet, dass nicht nur die Mitglieder der SGDF in der Türkei, sondern auch ihre Unterstützer in Deutschland möglicherweise unter Beobachtung der türkischen Behörden stehen.

Polizei überrascht die Deutsche im Schlafzimmer

Plötzlich, noch am Tag der Ankunft, dringt völlig überraschend ein Spezialkommando der türkischen Terrorabwehr in die Ferienwohnung ein. „Ich war gerade im Schlafzimmer, da sprang ein Polizist durch das geschlossene Fenster“, schildert Yüksel C. rückblickend die Situation. „Wir wurden von den Anti-Terror-Polizisten als Mitglieder der verbotenen PKK (kurdische Arbeiterpartei, Anm. d. Red.) und als Terroristen bezeichnet“. Alle seien von der Polizei festgenommen worden. Yüksel C. ist schockiert, wehrt sich nicht gegen die Festnahme. „Widerstand hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht“, sagt sie. Was man ihr und den zehn anderen Festgenommenen genau vorwirft, erfahren sie nicht. „Wir haben mehrfach nachgefragt, aber keine Antwort bekommen.“

Zu dritt in einer fensterlosen Zelle

Polizisten bringen die Gruppe in das Gefängnis von Balikesir. „Es war furchtbar“, sagt sie. „Kleine Räume, im Keller war es heiß, wir schwitzten und hatten große Angst“. Sie seien jeweils zu dritt in einer Zelle untergebracht worden, in der sich nur eine Sitzbank für eine Person befand. „Wir mussten auf dem nackten Betonfußboden liegen, es gab keine Decken, keine Fenster“, schildert Yüksel C. die Situation. Sie erzählt, dass sie und ihre Begleiter sich nicht waschen und nicht die Zähne putzen durften. Für die Kielerin besonders schlimm: Sie darf auch ihre Medikamente nicht nehmen, auf die sie als Diabetikerin angewiesen ist.

„Ich war schwach und müde.“ Immer wieder seien sie und ihre Begleiter von den Gefängniswärtern angeschrien worden. „Wir wurden auf das übelste beleidigt und permanent als Terroristen beschimpft.“ Kontakt zu anderen Gefangenen habe es nicht geben. „Niemand wollte uns sagen, warum wir ins Gefängnis gekommen sind“, sagt Yüksel C.. „Ich hatte Angst, dass man uns umbringen würde. Immer wieder gab es Verhöre, auch nachts. Aussagen haben wir vorsichtshalber keine gemacht“, meint sie. Die 51-Jährige erinnert sich, dass sie Schläge bekamen. Die Wachen sollen dafür ihre Schlagstöcke in Wolldecken eingewickelt haben. Nach ihrer Aussage wurden die Männer im Genitalbereich gefoltert.

Kaum Essen und Trinken

„Ich wies immer wieder darauf hin, dass ich Diabetikerin bin und ausreichend Wasser und für Diabetiker geeignete Nahrungsmittel benötige“, erzählt die Deutsche. Trotzdem habe es am Tag nur etwas Reis, eine kleine Kelle Linsen und eine Weißbrotscheibe gegeben. „Morgens, mittags und abends, immer das Gleiche.“ Ihr sei permanent übel gewesen. Wasser habe es nur aus einem Wasserhahn in der Toilette gegeben. „Es reichte nie und schmeckte ganz ekelig“, erinnert sich die 51-Jährige.

Keine Antwort vom Auswärtiges Amt

Nach fünf Tagen wird die Gruppe einem Staatsanwalt und einem Haftrichter vorgeführt. „Erstmals durften wir mit Rechtsanwälten sprechen“, erinnert sich Yüksel C.. Freunde und Bekannte hatten sich um den juristischen Beistand gekümmert, nachdem sie aus türkischen Zeitungen von der Festnahme erfahren hatten. Von deutschen Behörden, so Yüksel C., habe sie nichts gehört. Obwohl ihr Sohn, der in Deutschland von Verwandten über die Festnahme seiner Mutter informiert wurde, dort bereits Tage zuvor um Hilfe gebeten habe. „Die Briefe meines Sohnes ans Auswärtige Amt und die Deutsche Botschaft in Ankara sind bis heute unbeantwortet.“

Das Auswärtige Amt widerspricht der Aussage der Kielerin. „Das Generalkonsulat in Istanbul stand seit Bekanntwerden des Falls in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden vor Ort und hat sich für die Betroffene eingesetzt“, sagt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes auf meine Nachfrage. Wie die Bemühungen konkret aussahen, dazu wollte sich der Sprecher jedoch nicht offiziell äußern.

Geld, Handy, Laptop – alles weg

Die erste Anhörung der elf Festgenommenen fällt negativ aus – die Staatsanwaltschaft beantragt Haftverlängerung. Erst bei einer zweiten Anhörung in der Nacht zum 1. September 2016 entscheidet ein Haftrichter, dass die Gruppe das Gefängnis verlassen darf. „Ich habe das erst nicht geglaubt, dass wir gehen dürfen, aber dann war ich überglücklich“, beschreibt die 51-Jährige ihre Gefühle, die sie in jener Nacht hatte. Kurze Zeit später kann die Gruppe das Gefängnis verlassen. „Mir sind viele meiner Sachen im Gefängnis und in der Ferienwohnung abhanden gekommen. Die Polizei hat Bargeld, Laptop und Handy beschlagnahmt, doch das war mir total egal. Hauptsache ich war frei“, meint Yüksel C.. Bekannte holten sie am Gefängnis ab. „Endlich konnten wir wieder duschen und etwas Ordentliches essen.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Sohn von Yüksel C. schon längst auf den Weg in die Türkei gemacht und dort mehrere Tage auf die Freilassung seiner Mutter gehofft. Im Gefängnis besuchen durfte er sie erst kurz vor ihrer Freilassung – und nur für wenige Minuten. Er informierte Freunde und Bekannte seiner Mutter. Auch in Deutschland hatte es Proteste gegen die Inhaftierung gegeben. Zum Beispiel vor dem Kieler Landeshaus.

Ohne Pause sofort nach Kiel zurück

Ohne Erholungspause macht sich Yüksel C. in einem Auto mit Freunden sofort auf den Weg in Richtung Deutschland. Bis nach Kiel sind es mehr als 2.600 Kilometer, die Fahrt dauert laut Navigationsgerät 29 Stunden. „Wir hatten große Angst, denn direkt nach unserer Entlassung durch den Haftrichter legte die Staatsanwaltschaft Berufung dagegen ein. Wir mussten damit rechnen, jederzeit wieder inhaftiert zu werden“, meint Yüksel C.. „Wir wollten so schnell wie möglich weg, deshalb fuhren wir ohne Pause bis zur türkisch-griechischen Grenze, die wir zu unserem Glück problemlos überqueren konnten.“

Gesundheitliche Probleme nehmen zu

Zurück in Kiel muss sich Yüksel C. nach der mehrtägigen Autofahrt erstmal erholen. Sie braucht dringend medizinische Versorgung. Ihr Diabetes, die anstrengenden Tage und Nächte im Gefängnis und die fehlenden Medikamente haben ihrer Gesundheit zugesetzt. Die Ärzte empfehlen ihr einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt, um sich wieder richtig aufpäppeln zu lassen. Doch die 51-Jährige will vorerst keine Pause machen.

Sie befürchtet, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist. „Mir ist immer noch nicht mitgeteilt worden, was uns eigentlich vorgeworfen wird und wessen man uns verdächtigt. Wir haben lediglich eine Entlassungsurkunde vom Haftrichter bekommen, ansonsten gibt es kein einziges Schriftstück. Unsere türkischen Rechtsanwälte haben noch immer keinerlei Akteneinsicht bekommen. Lediglich die Vorwürfe aus der türkischen, regierungsnahen Presse sind uns bekannt“, erzählt sie.

Yüksel eine Terroristin und Attentäterin?

In den türkischen Medien heißt es, sie und die anderen zehn Festgenommenen gehörten verschiedenen „terroristischen“ Vereinigungen an. Zum Beispiel der verbotenen PKK oder der Gülen-Bewegung. „Wir sollen am Tag vor unserer Festnahme außerdem ein Attentat auf den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei verübt haben. Das sind natürlich alles haltlose Vorwürfe“, meint Yüksel C..

Damit sie in der Türkei von einem Rechtsanwalt vertreten werden kann, benötigt dieser eine schriftliche Vollmacht. Aus dem Ausland kann diese laut Yüksel C. nur über ein türkisches Konsulat weitergereicht werden. Sie zuckt mit den Schultern: „Das für mich nächste Konsulat in Hamburg wollte mir zunächst auch nicht helfen. Erst nach unzähligen Versuchen und Telefonaten mit der türkischen Botschaft in Ankara bekam ich endlich einen Termin und gegen Bezahlung die entsprechenden Unterlagen.“

Deutsches Konsulat meldet sich

Die 51-Jährige fühlt sich mit ihren Problemen allein gelassen: „Lediglich eine Frau vom Deutschen Konsulat hat mich kurz nach meiner Freilassung angerufen und mich gefragt, wie es mir geht. Da waren wir schon im Auto auf dem Weg nach Deutschland. Ansonsten hat sich nie jemand bei mir oder bei meinen Angehörigen gemeldet.“

Die Angst bleibt – auch in Kiel

Yüksel C. lebt weiter in Angst. Angst davor, in Abwesenheit verurteilt zu werden und nie wieder in die Türkei reisen zu dürfen. Angst davor, dass ihre Freunde und Verwandte in der Türkei bedroht werden. „Drei der Jugendlichen, die mit mir im Gefängnis waren, sind inzwischen schon wieder in Haft. Ich mache mir große Sorgen um sie. Es sind so viele Menschen unschuldig verhaftet worden. Ihnen könnten lange Haftstrafen drohen“, befürchtet Yüksel C..

Die Ruhe und Erholung, die sie ursprünglich bei ihrem Urlaub in der Türkei suchen wollte, versucht Yüksel C. nun in Deutschland zu finden. Sicher fühle sie sich auch hier nicht, sagt sie.

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